Dieser Gastbeitrag wurde geschrieben von Ninia Binias, bekannt als Ninia LaGrande. Mehr zur Person der Autorin findet ihr am Ende des Textes.
Manchmal werde ich gefragt, wann mir das erste Mal bewusst geworden wäre, dass ich anders sei. Ehrlich gesagt, habe ich mich nie als sonderlich anders empfunden. In meiner Kindheit habe ich – wie so viele – Regina-Regenbogen-Klebekarten gesammelt, ich mochte – wie so viele – keinen Spinat und ich wollte – wie so viele – unbedingt jeden Tag schaukeln. Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Kindergartenkindern lag bei etwa 30 Zentimetern. Ich war viel kleiner als alle anderen, schon immer. Interessiert hat das tatsächlich niemanden und das war das Beste, was mir passieren konnte. Vielleicht hatte ich Glück. Meine Eltern gingen mit mir ganz „normal“ um – was auch immer normal zu bedeuten hat. Sie beschützten mich nicht mehr als andere Eltern das mit ihren Kindern getan hatten und standen mit dem Herz kurz vorm Infarkt neben der hohen Rutsche, die ich eben auch mit meinen wenigen Zentimetern Körpergröße ausprobieren musste. Mein Kindergarten sah in meiner Größe keine Herausforderung, sondern eine Individualität. So war ich eben, Kinder waren eben verschieden und ich gehörte genauso dazu.
Unabhängig von den Kämpfen, die meine Eltern für meine Teilnahme an Regel-Kindergarten und – Schulen leisten mussten und unabhängig von dem höheren Krankenkassenbeitrag, den sie nur wegen meiner geringen Körpergröße zu zahlen hatten, habe ich selbst bewusst Diskriminierung erst viel später erlebt. Sowohl im Alltag als auch in gesellschaftlichen Strukturen, die es mir und vielen anderen kleinwüchsigen und anderen Menschen mit Behinderungen schwerer machen, gleichberechtigt teilzuhaben.
Das Wort Inklusion ist in den letzten Jahren zu einer riesigen Blase voll mit Wünschen, Ängsten, Vorurteilen und Hau-Ruck-Verfahren geworden. In erster Linie ist es aber vor allem ein Menschenrecht. Deutschland hat sich 2006 mit 170 anderen Ländern zur UN-Behindertenrechtskonvention bekannt und sich mit Unterzeichnung dazu verpflichtet, diese umzusetzen. Das ist jetzt acht Jahre her – und immer noch werden Menschen in Deutschland in großem Umfang diskriminiert. Darüber sind auch die Vereinten Nationen verwundert.
Aus meiner Sicht liegt das vor allem daran, dass festgefahrene Strukturen nicht verändert werden (wollen). Inklusion wird in vielen Städten, Bildungsbereichen und auf politischer Ebene nicht nachhaltig betrachtet. Es ist ein Thema, das nur dann Aufmerksamkeit bekommt, wenn Aktionen möglichst kein Geld und nur geringen Aufwand kosten (Beispiel: Schwerinordnungsausweis). Die Abbruchquote von Schwangerschaften, in denen Trisomie 21 festgestellt wird, liegt bei neunzig Prozent. Arbeitgeber kaufen sich lieber frei als ihrer Pflicht nachzukommen, zu fünf Prozent (!) Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. In vielen Bundesländern macht die Inklusion in der Schule eine „Pause“ oder wird gestoppt. Keine schönen Aussichten für Menschen mit Behinderungen.
Dabei sind nur vier Prozent aller Behinderungen angeboren. Alle anderen erhalten ihre Behinderung im Laufe ihres Lebens – durch Unfälle oder Krankheiten, viele erst im hohen Alter. Deshalb sollte es doch eigentlich im Interesse aller sein, Inklusion voranzutreiben. Um in einem solchen Fall nicht an den Rand der Gesellschaft zu rutschen, sondern weiterhin gleichberechtigt ein Teil davon sein zu dürfen.
In vielen Bereichen gehen die Verantwortlichen immer noch von dem sogenannten medizinischen Modell von Behinderung aus. Heruntergebrochen bedeutet das: Du bist das Problem. Der Mensch mit Behinderung ist das Problem und er muss zusehen, wie er damit durch das Leben kommt – damit es nicht langweilig wird, werfen ihm Krankenkassen, Versicherungen und die Politik gerne immer mal wieder Steine in den Weg. Dabei sollten wir längst alle dem sozialen Modell – etabliert schon 1983 vom Sozialwissenschaftlicher Michael Oliver – folgen. Dies besagt: Die Gesellschaft ist das Problem. Der Mensch wird von gesellschaftlichen Gegebenheiten und Barrieren behindert. Diese sind anzupassen, damit alle gleichberechtigt teilhaben. Kurz gefasst: Wir sind behindert – wir werden behindert! Und daran kann man arbeiten.
Die Kindheit ist aus meiner Sicht ein großer Baustein dieser gesellschaftlichen Veränderung. Wer nicht nur mit dem Gedanken, sondern mit dem bewussten Erleben aufwächst, dass alle Menschen gleich an Rechten und Teilhabe sind, der*die lebt dies im Alltag und als Erwachsene*r weiter. Wenn Kinder mich fragen, warum ich so klein bin, liefere ich ihnen eine zufriedenstellende Erklärung und die Sache ist für sie abgehakt. Barrieren finden wir nicht nur auf der Straße – sondern vor allem in vielen Köpfen. In Köpfen, die nicht sehen, dass Kommunikation der erste Schritt zur Besserung sein kann. Dass alle von einem inklusiven Zusammenleben profitieren können.
Deshalb wünsche ich mir für die Zukunft nicht nur Toleranz, sondern vor allem Aktivismus. Ein Nachfragen und Unterstützen. Ich wünsche mir, dass alle Erzieher*innen in Krippen und Kindergärten so reagieren wie meine damals: „Na, so sieht’s aus, dann schauen wir mal, wie wir dir hier alles erleichtern können.“ Menschen mit Behinderungen sind kein Problem. Sie sind weder Held*innen noch Opfer. Sie geben manchmal gar nicht so viel zurück wie viele immer schwärmen, denn sie können – wie so viele – richtig anstrengend sein. Aber sie haben – wie alle anderen – ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Nicht nur, wenn es gerade passt oder nicht zu aufwändig ist. Sondern immer.
Nur durch ein gemeinsames Vorleben können wir schon jetzt die Gesellschaft von morgen ändern. Die Menschen, die morgen Politik machen, Arbeitgeber*innen sein werden und an den Entscheidungstischen von Versicherungen sitzen, prägen. Bei einem Workshop hat mich mal ein etwa neunjähriges Mädchen gefragt, warum ich so klein sei. Nach meiner Antwort, dass es eben große und kleine Menschen gäbe und man den Grund bei mir medizinisch leider nicht herausfinden könne, hat sie mich lange angesehen und dann gefragt: „Und, bist du glücklich damit?“ Und ich habe geantwortet: „Ja, inzwischen schon.“ Und vielleicht könnten mir einer offenen, motivierten und inklusiven Bildung von heute dafür sorgen, dass die Kinder von heute später das „inzwischen schon“ in ihrer Antwort streichen können.
Zur Person:
Ninia Binias (*83), weithin als Ninia LaGrande bekannt, ist Podcasterin, Poetryslammerin, Geschäftsführerin, Moderatorin, Bloggerin, Autorin, Feministin und noch so vieles mehr. Ihr findet sie unter u.a. bei www.ninialagrande.de , dem Büro für Popkultur und der kleinen schwarzen Chaospraxis. Ninia setzt sich aktiv für eine inklusive Gesellschaft ein und schien uns als junge Mutter quasi als der perfekte Ansprechpartner um dieses Thema menschlich für uns zu beleuchten. Ein großes Danke an dieser Stelle nochmal dafür das sie sich ohne Weiteres darauf eingelassen hat, sich hier zu Wort zu melden!
3 Comments
[…] Bloggerin Ninia LaGrande berichtet von ihren Erfahrungen im Bildungssystem und entwirft die Vision einer inklusiven Gesellschaft: Für jede*n müsse das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe gelten. „Nicht nur, wenn es gerade passt oder nicht zu aufwändig ist“, sondern immer. Sie stellt den menschenrechtlichen Aspekt in den Vordergrund und wünscht sich, dass Kitas und Schulen Kinder unvoreingenommen aufnehmen. Sie sollen schauen, was gemeinsam möglich ist und prüfen, was sie verändern oder beschaffen müssen, um auch für dieses Kind ein guter Lernort zu sein. […]
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